Beschrieben
wird ein Ereignis einer Handlungskette. Hinsichtlich der Verwendung der Zeiten
gibt es keinen Unterschied zwischen "unserer" Übersetzung
und der Übersetzung von Julio Cortázar.
Estremeciéndome de pies a cabeza,
me arrastré hasta volver a tocar
la pared, resuelto a perecer allí antes
que arriesgarme otra vez a los horrores
de los pozos ...
Wie schon öfter erwähnt,
ist es für unsere Diskussion völlig
unerheblich, ob der Text von Edgar Allan
Poe richtig übersetzt wurde oder nicht.
Die Übersetzung von Julio Cortázar
hat aber wohl einen kleinen Fehler. Der
englische Orginalsatz sieht so aus.
Shaking
in every limb, I groped my way back to
the wall -- resolving there to perish rather
than risk the terrors of the wells, of
which my imagination now pictured many
in various positions about the dungeon.
Dass er mit den Händen die Wand berührte,
steht nicht im Orginal. Aber ...
grope ... bedeutet tasten, er tastete
sich zurück, was in "unserer" Übersetzung
mit ...retrocedí a tientas ....
wiedergegeben wird.
Kopfzerbrechen kann
auch die Konstruktion ...
dejarme morir ... bereiten. Prinzipiell ist diese Konstruktion
natürlich unproblematisch, aber hier
bereitet sie Schwierigkeiten.
No quiero
dejarme arrastrar por el vértigo
del tiempo. = Ich will mich nicht vom Wirbel
der Zeit fortreissen lassen. Pronto volveré a
dejarme caer por aquí de nuevo.
= Bald werde ich mich hier wieder fallen
lassen.
Wenn man aber genauer darüber
nachdenkt, ist es weniger die Frage, warum
es im Spanischen geht, als die Frage warum
es im Deutschen nicht geht, die Probleme
bereitet.
Ich lasse mich fallen.
Ich lasse
mich leicht verwirren.
Ich lasse mich beleidigen.
geht. Aber
Ich lasse mich sterben
geht
nicht. Im deutschen funktioniert die Konstruktion
lassen + Infinitiv nur,
wenn sie in eine Konstruktion zulassen
+ Nebensatz konvertiert werden kann.
Ich lasse mich fallen. = Ich lasse zu,
dass ich falle.
Ich lasse mich leicht verwirren.
= Ich lasse zu, dass ich leicht verwirrt
werde.
Ich lasse mich leicht beleidigen.
= Ich lasse zu, dass ich beleidigt werde.
Andersherum formuliert, es geht nur, wenn
das Subjekt der Handlung zustimmt. Bei
unserem Satz ist aber die Zustimmung ausgeschlossen,
bzw. weil schon der Inhalt problematisch
ist, bereitet es auch grammatikalisch Schwierigkeiten.
Ich lasse mich sterben. = Ich lasse zu,
dass ich sterbe.
Sterben an sich ist kein
Vorgang, den das Subjekt zulassen kann,
da es ihn in der Regel ohne seine Zustimmung
erleidet. Die Konstruktion lassen
+ Infinitiv suggeriert etwas, was
das Vorverständnis
der Wirklichkeit als unsinnig empfindet,
nämlich, dass es der eigenen Zustimmung
bedarf, dass man stirbt. Interessant an
diesem Phänomen ist, dass es noch
jenseits jeder Analyse als absurd empfunden
wird. Normalerweise wirken grammatikalisch
korrekte Sätze, die aber schlichter
Nonsens sind, nicht absurd.
Das hochnäsige,
blondgelockte Kamel, flog, belebt durch
den Schwung seiner Gedanken durch das Nadelöhr.
Auch dieser Satz ist unsinnig, irritiert
aber nicht. Der Satz ...Ich
lasse mich sterben... allerdings irritiert,
weil die Abstrusität, die jeder sofort
spürt, nicht offensichtlich ist. Wie
dem auch immer sei, im Spanischen kann
man Sätze konstruieren, die suggerieren,
dass es möglich ist, das eigene Sterben
zuzulassen, was ja logischerweise impliziert,
dass man auch die Möglichkeit hat,
es nicht zuzulassen. Hier liegen konzeptionelle
Unterschiede vor, die jenseits der Grammatik
liegen. Im Deutschen muss man sich schon
ziemlich bemühen, um einen Satz wie
Ich lasse mich sterben
sinnvoll zu finden.
Beschrieben wird also eine Situation, bei
der er die Möglichkeit hätte,
das eigene Sterben zu verhindern. Von dieser
Möglichkeit macht er aber nicht Gebrauch,
er lässt
sich sterben. Was
wie ein grammatikalisches Problem aussieht,
ist eigentlich die Tatsache, dass die Situation
so ungewöhnlich ist, dass sie unserem
Alltagsverständnis radikal widerspricht.
Grammatikalisch ist der Satz korrekt.
ok:
Ich lasse ihn sterben.
ok: Ich lasse dich
sterben.
ok: Er lässt ihn sterben.
ok: Er lässt sich fallen.
ok: Ich
lasse mich fallen.
nok: Ich lasse mich
sterben.
nok: Er lässt sich sterben.
Grammatikalisch sind auch die nok Sätze
korrekt. Ihre Aussagen sind aber so wenig
kompatibel mit unserer Alltagserfahrung,
dass wir sie als grammatikalisch falsch
empfinden. Mit Sätzen, die grammatikalisch
richtig sind, aber offensichtlich blödsinnig,
haben wir kein Problem. Bei Sätzen
allerdings, bei denen die grammatikalische
Struktur unterschwellig einen Inhalt suggeriert,
der jeder Alltagserfahrung widerspricht,
haben wir ein Problem. Wir müssen
jetzt akzeptieren, dass das Spanische hier
ein anderes Konzept des Sterbens hat. |